Die Busscheibe ist beschlagen von meinem Atem. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich kann nur noch Umrisse erkennen, welche aber auch immer unklarer werden. Ein helles Licht blendet mich plötzlich. Ein Grünton mischt sich zu dem Licht und lässt mich meine Augen zusammenkneifen. Langsam wird das Licht schwächer und ich öffne meine Augen.
Ich stehe auf einer dunkelgrünen, mit weissen Blumen gesprenkelten Wiese. Die Sonne wärmt mein Gesicht. Etwas kitzelt meinen Fuss. Als ich an mir hinunter schaue, sehe ich wie eine Ameise über zwei kleine Füsschen krabbelt. Ich gehe in die Knie und nehme das kleine zerbrechliche Tierchen auf die Hand. Die Ameise hat eine dunkelbraune, nahezu schwarze Farbe. Ich lasse sie über meine Hände und Arme spazieren und beobachte sie dabei ganz genau. Plötzlich steht mein Bruder neben mir. Er mustert das Tierchen interessiert und fragt mich, ob er die Ameise auch mal halten dürfe. Ich lasse sie auf seinen Arm spazieren und sie macht sich sofort auf Erkundungstour. Sie läuft über seine kleinen dicken Händchen und besteigt jeden Finger einzeln. Wir verfolgen den Weg dieses kleinen Wesens weiterhin mit grossen, gespannten Augen. Als unsere Ameise zum zweiten mal den kleinen Finger meines Bruders besteigt, sagt dieser:"Anna."
Wir spielen den ganzen Nachmittag mit Anna. Lassen sie auf uns herumspazieren, tropfen Wasser auf unsere Haut, damit sie trinken kann und erfreuen uns an ihrer unermüdlichen Energie und Neugierde.
Als es langsam kühler wird, gehen wir nach drinnen. Doch unsere Mutter ist nicht sehr erfreut darüber ein neues Haustier zu haben, schon gar keine Ameise. Sie sagt, wir sollen sie nach draussen bringen. Aber wir können Anna doch nicht einfach alleine draussen lassen. Es ist unterdessen empfindlich kühl geworden, es ist ja erst Frühling und ausserdem würden wir sie da draussen nie mehr wieder finden. Schliesslich lässt sich unsere Mutter milde stimmen und holt eine Kartonschachtel. Im Halbdunkeln suchen wir ein paar Blätter und Gräser, die wir in die Schachtel legen. In eine Ecke streuen wir etwas Sand, wir tropfen Wasser auf ein Blatt und legen ein Stück Apfel dazu. Inzwischen ist es schon ziemlich spät geworden, mein Bruder und ich wünschen Anna eine gute Nacht und gehen schliesslich ins Bett. Vor dem einschlafen bete ich noch und bitte Gott auf Anna aufzupassen.
Am nächsten Morgen ist die Schachtel leer, Anna ist weg. Das Wasser ist auch nicht mehr da und ich wundere mich, wie soviel Wasser in ein so kleines Tier passt. Aber mein Vater meint, es sei nur verdunstet. Mein Bruder ist traurig, dass Anna nicht mehr da ist. Aber ich verstehe, dass sie gegangen ist. Schliesslich hat sie sicher eine Familie zu der sie zurück musste. Und ich weiss, dass ihr nichts passieren wird. Gott passt ja auf sie auf.
Doch auch das tröstet meinen Bruder nicht richtig. Er meint, Gott könne nicht auf alle Ameisen dieser grossen Welt aufpassen, dazu gäbe es viel zu viele. Ich schaue in seine enttäuschten, von Tränen glitzernden Augen und möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen um ihn zu trösten. Doch als ich meine Arme um seinen kleinen Körper legen will, beginnt er sich aufzulösen. Er wird immer mehr von einem grauen, zähen Nebel zerfressen. Kurz bevor auch der Kopf im Nichts des Nebels verschwindet, sagt mein Bruder noch:"Dä Anna iri Familie froit sich sicher, dass sie wider do isch, gäll?!"
Ich nicke nur und ein kurzes, zufriedenes Lächeln durchzuckt sein rundes Gesicht, bevor auch dieses vom Nebel verschluckt wird. Dann wird alles still und um mich herum ist es nur noch schwarz.
Ich öffne meine Augen, die ich wohl die ganze Zeit über geschlossen hatte. Meinen Rucksack umklammernd sitze ich nun da, völlig benommen. Die Leute starren griesgrämig aneinander vorbei. Alles hat einen Graustich. Es ist, als wären all die leuchtenden Farben aus meiner Erinnerung unter einem grauen Tuch verschwunden. Niemand sagt ein Wort, es herrscht eine unheimliche Stille im Bus. Die Leute sitzen da wie in Wachs gegossen. Nur eine ältere Frau, zwei Sitze vor mir, versucht eine Fliege abzuschlagen. Allerdings ohne Erfolg, was mir eine innere Genugtuung verschafft. Ich wundere mich über die Menschheit und steige aus. Nachdenklich, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht gehe ich nach Hause. Den Blick immer zum Boden gerichtet, bedacht darauf, nicht auf eine Ameise zu treten.